Dienstag, 20. August 2013

Noch bevor ich die Augen öffne, realisiere ich, dass es draußen wie aus Kübeln schütteln muss. Die Geräusche, die die Reifen der Autos auf dem Asphalt hinterlassen, sind unverkennbar. Ich schaue aus dem Fenster und blicke auf einen nicht enden wollenden Wasserschwall, der sich vom Dach des Hostels  auf die Straße ergießt. Straßenbahnen fahren durch mehrere Zentimeter hohe Pfützen, Spaziergänger sieht man so gut wie gar nicht. Ich gehe duschen und frühstücken, dann wird gelesen. Gegen 10.00 Uhr mache ich mich dann doch noch einmal auf den Weg in die Stadt. Sie ist nahezu menschenleer. Der Laden,  der gestern geschlossen hatte, hat nun geöffnet, den Weg dorthin hätte ich mir jedoch sparen können. Zwischenzeitlich hört es ganz auf zu regnen, doch die Entscheidung, in Flipflops zu laufen, erweist sich als goldrichtig. Das wellige Kopfsteinpflaster hat sich im Laufe der Zeit abgesenkt – nicht jedoch die Gullis, die nun wie Stolpersteine aus dem Boden herausragen.  Das Wasser  sammelt sich überall, nur nicht in der Kanalisation. Ich kaufe mir noch einen Läufer aus Leinen, dazu passende Platzdeckchen. In einer Bäckerei werde ich meine letzten Lats los. Im Hostel setze ich mich in die Bar und lese. Zwei Männer sind  noch auf der Suche nach einem guten Restaurant für das Mittagessen – da kann ich ihnen weiterhelfen! Sie kommen aus Deutschland und haben bereits Helsinki und Tallinn besichtigt. Nun wollen sie sich ein Auto leihen und das Landesinnere der Länder erforschen. Der eine gibt mit einen Restauranttipp für Tallinn – dort solle ich unbedingt Elchsuppe probieren. Nunja. Kurz vor 12 Uhr mache ich mich fertig, stülpe dem Rucksack die Regenhülle um und checke aus. Es nieselt nur noch ein wenig, in 10 Minuten bin ich an der Bushaltestelle. Der Euroliner ist pünktlich, ein Fahrer verstaut fachmännisch das Gepäck unten im Bus, der zweite Fahrer kontrolliert Fahrschein und Pass. Ich bekomme Platz 9 im nicht ausgebuchten Bus zugewiesen, die dritte Reihe hinter dem Fahrer am Fenster. Sehr gut. Man hat Beinfreiheit wie in der ersten Klasse im  ICE, es gibt freies WLAN und eine Steckdose an jedem Platz  – und das für 22,80 €. Auf einem kleinen Bildschirm im Sitz des Vordermannes kann man die Fahrtroute verfolgen. Pünktlich um 12.34 Uhr fahren wir los. Nun bekomme ich auch die Außenbezirke von Riga zu Gesicht. Im trüben Nieselregen wirken sie noch armseliger und verlorener. Wir kommen zügig voran. Ich versuche zu lesen doch nach wenigen Minuten kommt es, wie es kommen muss: Ich schlafe ein. Wie in Kanada, als ich nahezu die gesamte Strecke zwischen Thunder Bay und Vancouver verpennt habe. Konnte ich als Baby auch schon so gut schlafen, wenn ich sanft durch die Gegend gefahren wurde? Ich hoffe es :-). Nach rund 90 Minuten Fahrt werde ich wieder wach. Draußen ziehen Kiefernwälder am Strand der Ostsee vorbei, tiefer im Landesinneren stehen vereinzelt kleine Bauernhöfe, halb verfallene Scheunen und hochmoderne Einkaufszentren. Davor parken auf Hochglanz polierte Autos: Mercedes, Audi, VW. Die Lada-Werkstatt nebenan hat schon bessere Tage gesehen. An der Grenze erstrecken sich alte verfallene Grenzgebäude. Die Leuchttafeln, die einst Fahrzeuge “sortierten” hängen von den Betonteilen herab, bei kleinen Grenzhäusern ist die Tür für immer verschlossen. Wenige Meter später erstreckt sich eine neue Anlage über der Straße, doch wir fahren links dran vorbei. 100 km sind es bis Riga, 200 bis Tallinn, verspricht eine Tafel in einem kleinen Ort, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Nach zwei Stunden Fahrtzeit werden wir angehalten – die estnische Polizei führt regelmäßig Passkontrollen durch. Alles okay, wir dürfen weiterfahren. An nahezu jedem Gebäude der Dörfer und Städte, durch die wir fahren, weht die estnische Flagge – schließlich ist heute Tag der Unabhängigkeit und somit Feiertag. Am Busbahnhof angekommen nutze ich erstmal die öffentlichen Toiletten – 30 Cent, hach, was waren das noch Zeiten… Zu Fuß mit einem miserablen Stadtplan ohne Sonne –  ich bin mal wieder verkehrt unterwegs. Dann finde ich die richtige Straße und laufe los.  Rund 30 Minuten später erreiche ich “The Monk’s Bunk Hostel”. Die Tür ist unscheinbar, da sie direkt neben einer Shisha-Kneipe liegt. Das übliche Sicherheitsbrimborium: Knopf drücken, in die Kamera lächeln und die Tür geht auf.  Im ganzen Treppenhaus weisen Schilder darauf hin, dass die Rezeption ganz oben ist. Im “Vorraum” stapeln sich Schuhe: Die muss man nämlich vor dem Betreten des Hostels ausziehen. Okay. Auf knarzenden Dielen geht es zur Rezeption. Viele Sofas stehen herum,  ein Billardtisch, mehrere Computertische.  Der Typ von de Rezeption informiert mich über das übliche und gibt mir einen Stadtplan, in den er die wichtigsten Restaurants und Einkaufszentren einzeichnet. Raum  Nummer 5 ist direkt gegenüber dem großen Aufenthaltsraum,  vier  solide Stockbetten aus Holz, dazu für jeden einen abschließbaren Spind. Obwohl ich Bett G bekomme,  erhalte ich den Schlüssel  für Spind D. Der Schrank klemmt,  man bekommt ihn nur auf,  wenn man die Tür darüber oder daneben öffnet. Naja,  das  wird schon klappen.  Neben der Rezeption geht es zu den drei Bädern – hier wird nicht nach Männlein oder Weiblein sortiert. Immer eine Toilette, ein Waschbecken und eine ebenerdige Dusche  mit riesigem Duschkopf –  alles  frisch renoviert. Luxus pur. Ich mache mich frisch und begebe mich in Richtung Innenstadt. Gleich neben dem Hostel befindet sich ein Sex Shop, in dem ab 23 Uhr freizügig gekleidete Damen auf gut betuchte Herren warten. Einmal über die Kreuzung und schon stehe ich mitten auf dem Freiheitsplatz.CIMG3307 Ich schlendere die Harju entlang, an der Touristeninformation vorbei bis zum Rathausplatz. Alle Restaurants ringsherum haben die Tische nach draußen gestellt. Kellner in restauranttypischer Kleidung versuchen einen ins Lokal zu locken. Nicht mit mir.  Ich lande  – auch ohne Gästefänger  – in der Taverne “III Draakon” im Gewölbe des Rathauses. Für 2,- € gibt es Elchsuppe aus tönernen Gefäßen. Sie wird ohne Löffel  gegessen. Die Atmosphäre ist mittelalterlich, nur Kerzenlicht erleuchtet den kleinen Raum, in dem einige Holzbänke  mit Fellen auf die hungrigen Besucher warten. Ich würde gerne noch einen Salat essen und gehe weiter. Natürlich bleibe ich im Souvenir-Shop hängen.  Handgemachtes steht hier hoch im  Kurs. Die berühmten Kuksa-Holztassen,  die man im Rüsthaus für 33,90  € käuflich erwerben kann, gibt es hier für 10,- €. Da will man glatt zuschlagen… CIMG3293 Aber ich schlafe lieber nochmal eine Nacht drüber. Überhaupt könnte ich den halben Laden leerkaufen. Schließlich kehre ich im “Kuldse Notsu Korts” und bestelle “Salad  with grilled chicken hearts”,  zum Nachtisch Tuuliku Kama (einen Joghurt mit undefinierbaren Zutaten, aber lecker,  dazu ein Schälchen frische Beeren) und eine Estnische Limonade. Keine Ahnung, was genau da drin ist, aber es ist gut!  Vorab werden noch warme Brötchen mit Butter serviert. Erst als der Salat vor  mir steht,  realisiere ich,  was genau ich da eigentlich bestellt habe… Vier Herzen schaffe ich,  das fünfte bleibt liegen.  Die  Limonade ging weg wie nix, da muss noch eine her. Der Nachtisch ist echt super. Man kann den Joghurt trinken oder mit dem Löffel  die Beeren hineintauchen. Ich versuche beides und bin von beiden Varianten überzeugt :-). Ich schlendere noch ein wenig durch die Gassen der Altstadt und mache mich dann auf den Weg ins Hostel. Der erste Playboy-Bunny räkelt sich an der Bar des Sex Shops. Nun denn. Im  Hostel ist es so ruhig wie in der Stadt –  viele Gäste haben sich hier einquartiert,  weil Robbie Williams heute in der Stadt ein Konzert gibt. Im Gemeinschaftsraum läuft gechillte Musik, die nicht im entferntesten etwas mit Robbie zu tun hat –  hier scheint jemand amerikanische Sängerinnen aus den 80ern zu  lieben. Es ist ruhig hier. Ich schreibe Tagebuch,  lese und sehe “Der  seltsame Fall des  Benjamin Button” zuende, den ich im Bus angefangen habe zu schauen.

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