Sonntag, 23. Juli 2023

Um kurz nach sieben werde ich gut erholt wach. Da heute nur 10 km auf dem Plan stehen, kann ich ja langsam in den Tag starten. Geht am besten mit einem ausführlichen Telefonat. Gegen neun klopft die Reinigungskraft, aber ich bin noch nicht ganz fertig, sie hat Verständnis und wartet. Der Rucksack ist doch ziemlich schwer, aber er wird ja von Tag zu Tag leichter, weil Shampoo und Lebensmittel weniger werden. Direkt am Hostel geht der Lechweg weiter, die Sonne scheint, kaum Wolken am Himmel. Da ich schon mit einen wunderbaren Telefonat in den Tag gestartet bin, setze ich die Serie mit weiteren lieben Menschen fort – schließlich sind aller guten Dinge drei (bzw. vier, weil einmal zwei am anderen Ende waren). Dankbar für diese Gespräche starte ich noch beschwingter in den Tag 😊

Platz da!

Der Weg ist gut ausgebaut und ich komme zügig voran. Ab und an werde ich überholt, entgegen kommen mir nur eine Frau mit Kind. Irgendwann stoppt eine Kuhherde den weiteren Weg. Auch ein Typ mit Barfußschuhen traut sich nicht weiter. Wir kommen ins Gespräch. Er lebt seit einem halben Jahr in Lech, kommt aus Cottbus, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen und arbeitet nun im Fitnessstudio und im Service. Wintersportler? Fehlanzeige! Es sei daher ein sehr langer Winter gewesen. Das glaube ich ihm aufs Wort! Zwei Frauen Mitte 30 stoßen zu uns: „Oh wie süß, eine Kuhherde! Da können wir jetzt einfach durch, oder?“ Öhm… Ich weiß nicht… Die Leitkuh kommt auf uns zu, die beiden weichen ebenfalls zurück. „Wir kommen aus Hamburg und dachten, da geht man einfach durch, aber das geht wohl doch nicht.“ Gut erkannt. Irgendwann geben die Kühe den Weg frei. Die beiden laufen auch den Lechweg, aber nicht ab Formarinsee und wollen am Donnerstag schon in Füssen sein. Auf dem Oberarm der einen prangt ein Segelschiff mit dem Schriftzug „Moin“, was mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert 😀 Sie fragen, wie lange wir für den Weg geplant haben, da sagt der Typ: „Wir haben uns gerade erst bei den Kühen kennen gelernt.“ Die drei legen ein ordentliches Tempo vor, ich verabschiede mich und lasse es gemütlicher angehen. Bis zu den nächsten Kühen. Drei Stück. Mit Kalb. Mit Hörnern. Ich muss an Fabian Raphael denken, der davor auch Respekt hat und kann es ihm nicht verdenken. Ich fasse mir ein Herz und gehe beherzten Schrittes an ihren vorbei. Uff.

Gespräche

Immer wieder kreuzen mächtige Wasserfälle den Weg, Holzplanken erleichtert den Übertritt. Die Landschaft ist wunderbar, es geht steil bergab Richtung Lech. An einer Feuerstelle komme ich mit einer Frau ins Gespräch. Sie entfacht gerade ein Lagerfeuer für das Festmahl – Würstchen, Paprika, Brote. Ihre Tochter kämpft mit einem eingewachsen Zehennagel, der Sohn ist Autist und verkriecht sich lieber im Schatten. Für drei Monate ist sie nun in Warth, kümmert sich um eine Alm. Sie gibt mir noch Wandertipps und meint, ich solle noch ein wenig im Rauch des Feuers verharren, damit alles Schlechte und Ungesunde, was ich noch mit und in mir herumtrage, ausgeräuchert würde. Ich danke freundlich für das Gespräch und die Tipps und mache mich wieder auf den Weg.

Gehrnerhof

In Warth entscheide ich mich für den Original-Lechweg statt für die Abkürzung direkt zum Gehrnerhof. Richtige Entscheidung! Der Weg führt sanft bergab, um nach der Überquerung des Krumbachs wieder leicht anzusteigen. Ein großes Geröllfeld quert den Weg, scheint aber schon länger hier zu liegen. In der Ferne entdecke ich schon den Gehrnerhof. Die Schuhe und Stöcke kommen in den Skikeller, im Haus nur barfuß oder in Hausschuhen „schließlich haben wir Holzfußboden“. Zur Begrüßung gibt es einen Schnaps. Das Zimmer ist riesig, die Toilette extra, zwischen Waschbecken und Dusche eine Glaswand. Hinter dem Bett noch ein Separee mit Sofa, Tisch und Stühlen und einem traumhaften Blick auf die Berge. Einziges Manko: Aus dem Nebenzimmer höre ich alles. Wirklich alles. Auf meine Frage, wie es mit dem Abendessen aussieht, was man mir bei der Kontaktaufnahme in Aussicht gestellt hatte heißt es nur lapidar: „Heute ist Ruhetag.“ Ich lege kurz die Füße hoch, dann gehe ich duschen.

Abendessen in Warth

Auf dem Weg zur Tür treffe ich die Wirtin, die mich fragt, was ich morgen zum Frühstück trinken mag. Als ich weder bei Kaffee noch bei Tee zustimme, sondern um Milch, Kakao oder Wasser bitte, schüttelt sie nur den Kopf und geht irgendetwas Unverständliches murmelnd wieder die Treppe rauf. In strahlenden Sonnenschein mache ich mich auf den Weg. Die Straße ist nicht für Fußgänger gemacht, meine barfuß-Ballerinas aber auch nicht für den Fußweg 🤷🏽 Nach knapp 30 Minuten bin ich in Warth und versuche erneut, kostenlos Geld abzuheben – wieder erfolglos. Ich kehre im Tirolerhof ein und bestelle mit ein Schnitzel mit Salat und einen gespritzen Holunder. Neben mir das Pärchen raucht eine Zigarette nach der andern, nimmt keine Rücksicht auf die Mahlzeiten der anderen. Das Essen geht fast unangetastet zurück: „Ich kann gar nicht so viel essen, ich habe eine Magenverkleinerung.“ – und ich ein Déjà-vu an das erste und gleichzeitig letzte Date mit H. aus N. 🙈 Ich zahle und mache mich auf den Rückweg.

Sektchen

Als ich zur Tür rein komme, steht die Herbergswirtin Lisbeth da: „Frau Anna Werner, richtig? Wir zwei trinken jetzt erst einmal einen Sekt zusammen! Und dann sind wir auch per Du!“ Widerspruch zwecklos und auch unangebracht. Wir setzen uns auf zwei Sessel im Flur und teilen uns einen Prosecco. Er steigt mir rasch zu Kopf… Im Januar hat Lisbeth das jüngste ihrer vier Kinder verloren, Benedikt wurde nur 28 Jahre alt. Ihre Augen werden feucht, sie fragt sich warum sie die Pension immer noch macht – nächstes Jahr sind es 50 Jahre. Wir schweigen noch eine Weile zusammen, dann rafft sie sich auf und meint, hilft ja nix, das Leben geht weiter. Sogleich füllt sie das Schnapsfläschen, das ich vorhin dort habe leer stehen lassen, wieder auf 🙈🤣 So hochprozentiges Zeugs wird alle Viren und Bakterien töten. Rede ich mir ein. Ich verabschiede mich und gehe aufs Zimmer. Am linken Fuß entdecke ich zwei kleine Blasen, die ich rach verarzte. Ein Telefonat steht noch aus, dann geht’s in Bett.