Samstag, 07. Oktober 2023

Ich werde früh wach, beschließe dann gegen sieben Uhr zu duschen und zu frühstücken. Gerd spaziert in langer grauer Unterhose durch das Haus, er ähnelt darin mit seinem Gang und der ganzen Statur sehr an Owo während der Skiurlaube. Der Schwede (u40, Matze 😉) freut sich wieder über meine Frühstückswürstchen und labert mir im Gegenzug eine Frikadelle ans Ohr. Über Nacht hat es angezogen, eine leichte Eisschicht überzieht die Fenster der Autoscheiben. Meine Laune ist gerade ein wenig im Keller, weil mir die Mieterhöhungen aufs Gemüt schlagen. Mit schlagfertigen Argumenten, die mich zum Lachen bringen, bekommt Stephan die Lage wieder gerade gebogen. Ich packe meine Sachen zusammen und sage Taylor (jetzt weiß ich auch den Namen des Mannes für alle Fälle), dass das Zimmer frei ist und ich nur meinen Koffer noch hier stehen lasse. Draußen treffe ich ihn und seine Familie. Es sei zu warm für diese Jahreszeit, sie hoffen auf Schnee und Eis. Plan für den Tag: Alle unbekannten Straßen ablaufen. Für die Routen am Wasser traue ich mich nicht ohne Auto und alleine. Ein Typ gestern auf der Tour hatte sich beim abendlichen Spaziergang einfach mit einem Regenschirm bewaffnet: Das würde bestimmt ausreichen…

Geisterstadt

Die Straßen sind menschenleer, es herrscht am Samstagmorgen eine gespenstische Ruhe. Neben zahlreichen gepflegten Reihenhäusern gibt es Ecken, in die ich bei Nacht nicht kommen möchte. In den Vorgärten lagert Schrott, von Autos über Mikrowellen und Kaffeemaschinen bis hin zu Kinderfahrrädern und Sporttaschen. In einigen Gegenden dieser keinen Stadt braucht es ein sonniges Gemüt, um nicht dem Trübsinn oder Alkohol zu verfallen. Die Kinderspielplätze sind grau, Sandkästen sucht man vergebens, Kinder spielen im feinen Schotter. Das Grau in Grau weicht nur hin und wieder bunten Fassaden oder Kunstrasen-Vorgärten. Ab und an Einfamilienhäuser, die aus dem Stadtbild herausstechen. Ihre Eigentümer*innen haben ihnen jeweils einen eigenen Stempel aufgedrückt. Da in Kanada bereits am kommenden Montag Thanksgiving gefeiert wird, prangen an einigen Häusern schon Hexen, Kürbisse und andere Accessoires.

Polar Bears International

Das kleine Info-Center hat geöffnet, mir wird von einer Frau, die für ihren Master über das Leben der Eisbären geschrieben hat, alles über diese faszinierenden Tiere erzählt. 180 Tage überleben sie im schlimmsten Fall ohne ausreichend Nahrung, für die sie das Eis brauchen. Um 1980 waren es rund 107 eisfreie Tage im Jahr, bis 2015 schon 130. Stand heute, 8.10.2023, sind wir bei Tag 112. Die Sorge steht der Frau ins Gesicht geschrieben. Ein kleiner Film veranschaulicht die Zugrouten der Bären, macht eindrücklich aufmerksam auf den Klimawandel. Wir kommen noch ein wenig ins Gespräch. Hier wohnen? Auf gar keinen Fall, sie sei immer nur für ein paar Wochen hier. Mit dem Zug? Oh nein, das sei zu unbequem, sie nehme immer das Flugzeug.

Mittagspause

Am Straßenrand steht ein Schild „we’re open“, also betrete ich das noch menschenleere Ptarmigan, das sich in einem Neubau befindet. Zwei freundliche junge Frauen sagen, dass es heute Möhrensuppe mit Ingwer und dazu Sandwiches gibt (17$). Ich gönne mir zunächst eine Zimtschnecke mit Puderzuckerüberzug und tippe das komplexe WLAN-Passwort ein. Einige Zugreisende trudeln ein, man kennt sie bereits, es wird das gleiche wie gestern bestellt. Das Essen ist heiß und scharf und wärmt bestens. Auf der Rechnung fehlt die Zimtschnecke (5$), sie bedanken sich für meine Aufmerksamkeit. Ich zahle und schlendere weiter durch die Straßen, gehe dann zurück zum B&B.

Aufwärmen und Abwarten

Der Schwede war mit Gerd und seinem Leihwagen unterwegs, hat einen Bären aus nächster Nähe gesehen („Es war schon etwas gefährlich!“) und strahlt über das ganze Gesicht. Gerd macht sich was zu essen, ich blogge schon einmal ein bisschen und verbringe noch etwas Zeit in der Unterkunft, lese „Das Kind in mir will achtsam morden“. Im Kamin raschelt es – ein Vogel ist durch den Schornstein hineingeflogen, aber bevor Taylor ihn retten kann, ist er schon wieder rausgeflogen. Tilo schickt wunderbare Fotos aus Porto Santo, Matthias aus Maastricht. Gerd zieht wie ein Profi-Fotograf los, grün-schwarze Kleidung, das riesige Objektiv getarnt. Gegen halb vier gehe auch ich nochmal los, Beine vertreten. Ich halte mich so nah am Wasser, wie es die Hinweisschilder zulassen. Das Restaurant von heute Mittag hat leider eine geschlossene Gesellschaft, daher hole ich mir im Northern Store eine Cola und im Tamarak (kleiner Supermarkt) eine selbst gebackene Zimtstange und einen Brownie mit Erdnuss. Im Hostel sagen mir zwei Mitreisende, dass der Zug früher fahren würde, nämlich schon um 19.30 Uhr. Ich bin verwirrt – das steht auf meinem Ticket so drauf. Der Schwede war noch einmal bei „seinem“ Bär, beklagt die Erderwärmung. Wir sind uns beide einig, dass wir mit unseren Reisen auch unseren Teil dazu beitragen. Carina schreibt, dass sie froh ist, nicht nach Jordanien zu reisen, bei der Lage gerade im Gaza-Streifen. Auch Anne pflichtet ihr bei, es ist erschreckend, wie viel Hass in dieser Welt ist.

Leaving Churchill

Ich laufe zu Fuß im Nieselregen Richtung Bahnhof. Taylor kommt mit einem Quad um die Ecke, fragt, ob wirklich alles okay sei, er würde mich doch auch fahren! Ich sage ihm, dass ich das Laufen vermisst habe und es mir gut tut, vor der Zugfahrt noch ein paar Schritte zu gehen. So ganz traut er dem Braten nicht, wünscht mir dennoch eine gute Reise und hofft, dass alles im Haus zu meiner Zufriedenheit war. Am Bahnhof treffe ich die beiden Engländer wieder, die mich gestern auf dem Spaziergang durch den Ort gefragt haben, wo man die Helikopter-Tour buchen kann. Sie haben sie gemacht, 600$ pro Person, pro Stunde. Dafür gab es auch 30 Eisbären von oben, beide strahlen über das ganze Gesicht. Nur kalt sei ihr immer noch – als ich ihr meine Fleece-Jeans zeige ist sie hin und weg, wird das googlen und kaufen, sobald sie zurück in England ist. Das dauert aber noch etwas, erst einmal geht es nach New York. Zuerst steigen die Menschen mit Bett-Buchung ein, sofort ist es leerer in der Wartehalle. Ich tanke nochmal frische Luft, da öffnet Jennifer, unsere Zugbegleiterin, auch schon den Einstieg für Economy. Platz 6c/d hat keine störenden Elemente am Fenster, die Reihen vor und hinter mir bleiben leer. Die vier jungen Leute aus China, die auch im Dreamhouse übernachtet haben (die eine hatte mir die tollen Eisbär-Fotos weitergeleitet, ein anderer hat Haare wie ein Monchhichi), entdecken, dass man einen Doppelsitz problemlos um 180° drehen kann – flugs haben sie sich so zwei „vierer“ gebaut. Verrückt. Ich esse zu Abend, der Zug setzt sich um 19.45 Uhr bei absoluter Finsternis in Bewegung. Björn würde sagen, ich hätte schon so kleine Äuglein und wie immer hat er Recht damit. Umziehen und gute Nacht.